Eine globale Pandemie stellt Unternehmen sowie die Gesamtwirtschaft momentan vor ungeahnte Herausforderungen und erschwert sowohl das Tagesgeschäft als auch eine strategische Planung. Uns interessiert dabei die folgende Fragestellung: Wie verändert sich in diesen Zeiten der Unsicherheit die Bedeutung von Verantwortung und CSR in Unternehmen? Zu diesem Thema haben wir “3 Fragen an…” Matthew Bothner.

 

(1) Beginnen wir mit Ihrem professionellen Hintergrund. Was machen Sie zurzeit beruflich, wo engagieren Sie sich und inwiefern haben Sie einen Bezug zur Wirtschaftsethik? Wie ist Ihre Institution von der Pandemie betroffen?

Matthew Bothner: Ich bin ausgebildeter Soziologe und Professor für Strategie und Lehrstuhlinhaber der Deutschen Telekom an der ESMT Berlin. In meiner aktuellen Forschung verwende ich natürliche Sprachverarbeitung und Netzwerkanalyse, um Veränderungen in der Bedeutung von Konzepten (Konzepte wie Leader, Manager, Coach und Gründer) in großen Textkörpern zu verstehen. In der Lehre konzentriere ich mich auf agile Führung. Forschung und vor allem Lehre erfordern, dass ich mich als “Doppelbürger” mit “zwei Pässen” auf die Wirtschaftsethik beziehe, wenn man so will. Die Soziologie – zumindest so, wie Max Weber und die Vertreter seiner Denkschule sie verstanden haben – ist keine normative Disziplin. Ihr primäres Ziel ist es, zu verstehen und zu erklären, nicht zu verordnen (im Gegensatz zum Ziel eines Theologen oder eines Ethikers). Dennoch formulieren Soziologinnen und Soziologen natürlich ethische Positionen. Und diese Verpflichtungen sind oft von den Erkenntnissen und Erklärungen geprägt, zu denen sie kommen, wenn sie ihren sozialwissenschaftlichen “Pass” halten. Wenn sie gebeten werden, ethische (oder moralische) Vorschriften zu machen, nehmen sie dann einen anderen Pass – typischerweise den des informierten Laien (es sei denn, sie sind in einer normativen Disziplin wie der Philosophie ordnungsgemäß ausgewiesen) – und versuchen vorsichtig, ethische Anleitung zu geben oder zumindest die Anfänge eines Rahmens für solche Anleitung. Ein Großteil der ethischen Anleitung, die ich in der Diskussion mit meinen Studierenden zu geben versuche, bezieht sich auf ein früheres Anliegen von mir, nämlich wie sich der soziale Status auf Führungskräfte in der Wirtschaft auswirkt. Das ist ein Thema, das zufällig auch mit der Pandemie zusammenhängt.

 

(2) Weiter geht es mit einer Evaluation der Corona-Krise: Ist diese Krise Ihrer Meinung nach eine Krise wie jede andere oder was ist das Neue an ihr?

Matthew Bothner: Was mir an der Corona-Krise fast einzigartig erscheint, ist die Art und Weise, wie sie die Statusordnungen an den Arbeitsplätzen neu geordnet hat. Ich denke dabei vor allem an eine einfache, aber wichtige Beobachtung, die auf den verstorbenen Roger Gould zurückgeht: Zwei Menschen, die einen ähnlichen Status haben, sind besonders anfällig für Konflikte – manchmal gefährliche Konflikte, wie meine Co-Autoren und ich in einer Studie über Kollisionen bei Formel-1-Rennen herausgefunden haben. Ohne eine Hierarchie, die die Interaktionen dieser beiden Menschen normalisiert, kann der Wettbewerb (zum Beispiel um Einfluss) schnell zu einem Konflikt eskalieren. Was hat die Corona-Krise damit zu tun? Ich sehe drei mögliche Zusammenhänge zwischen Corona und statusbedingten Konflikten am Arbeitsplatz:

  1. Ein durch Corona ausgelöster Übergang zu virtuellen Meetings kann dazu führen, dass ein Kollege, der in Face-to-Face-Meetings gut gearbeitet hat, nun online deutlich schlechter abschneidet, während ein anderer Kollege, der in Face-to-Face-Meetings nicht so effektiv war, nun online deutlich besser abschneidet. Der Corona-Schock führt also dazu, dass zwei Personen im Status gleichgestellt werden, die sich vorher unterschieden haben. Der Konflikt ist nicht weit entfernt.
  2. Eine Umstellung auf virtuelle Führung kann zwei Individuen zusammenbringen, die in ihren vorher getrennten Umgebungen dominant waren, aber jetzt als fast Gleiche zusammengedrängt werden (z.B. kann das Management entscheiden, dass es eine großartige Idee ist, das Team zu vergrößern, weil die Reisekosten jetzt bei Null liegen), sodass ein Versuch, neue Synergien zu bekommen, eigentlich negative Synergien erzeugt.
  3. Unter denjenigen, die im Status bereits nahe beieinander sind, kann die Bedrohung durch Corona (die Zeit, Energie und Ressourcen aufsaugt) Benzin auf ein schwelendes Feuer zwischen zwei im Status nahe beieinander stehenden Personen gießen und lokale Feindseligkeiten katalysieren, die vorher latent waren. Das Energieniveau sinkt, die Geduld wird dünner und ein erneuter Konflikt ist umso wahrscheinlicher.

Jede dieser Möglichkeiten – unabhängig oder in Kombination – ruft meiner Ansicht nach nach mehr Reflexion darüber, wie wir andere führen und wie wir uns selbst führen. Wir brauchen mehr Selbst- und Situationsbewusstsein, um die lauten Signale, die in angespannten Online-Interaktionen ausgesendet werden, nicht falsch zu interpretieren und überzureagieren. Einige Gedanken dazu, die meine Co-Autoren und ich aus der Formel-1-Studie vor Corona entwickelt haben, erscheinen mir jetzt sogar noch relevanter.

 

(3) Weiter geht es mit einer Grundsatzfrage: Denken Sie, dass die Corona-Krise einen Anstoß zur Diskussion einer grundsätzlichen Neukonzeption der Art, wie wir zukünftig wirtschaften möchten, darstellt?

Matthew Bothner: “Grundlegend” scheint mir zu extrem. Ich würde es vorziehen, den Schwerpunkt darauf zu legen, neue und “authentische” Wege der Online-Interaktion zu finden. Eine der Erfahrungen, die viele von uns während des Höhepunkts der Corona-Krise vermisst haben, waren die spontanen “Gespräche an der Kaffeemaschine”, die wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen im Büro für selbstverständlich gehalten hatten. Dort entstehen alle Arten von wichtigen Verbindungen und Gesprächen. Als wir versuchten, diese Erfahrung online genau nachzubilden (z. B. die Kaffeetasse vor die Kamera zu stellen), fühlten sich viele von uns sofort benachteiligt. Wir waren nicht in der Lage, virtuell zu replizieren, was wir tatsächlich genossen hatten. Wir brauchen also neue, authentische Konzepte für das Geben und Nehmen von Rat und Hilfe und Unterstützung im Internet. Eine der freudigen Überraschungen der Pandemie-Saison war die Chance, ein Brainstorming über diese Konzepte oder Strukturen durchzuführen, die jetzt in unser Lehrportfolio einfließen. Wir wollen Führungskräften helfen, die energetisierenden, gebenden und empfangenden Momente, die so häufig in unseren Fluren passieren, praktisch zu kuratieren. Wenn uns also die Corona-Krise dazu gezwungen hat, darüber nachzudenken, wie wir einander helfen und Gegenseitigkeit auf sinnvolle Weise online fördern können, dann haben wir begonnen, gut darauf zu reagieren.

 

Unternehmensverantwortung und CSR in der Krise – 5 Fragen an… ist eine Interviewreihe zum Thema Wirtschaftsethik in Krisenzeiten. Sie zeichnet sich besonders durch die Pluralität unserer Expert_innen aus. Die gesamte Reihe veröffentlichen wir fortlaufend im Dossier.

 

 

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