Ulrich Hemel: Kritik der Digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss. Freiburg: Herder 2020

 

Menschen in modernen Gesellschaften sind bewusst und unbewusst einer Durchdringung ihres täglichen Lebens durch digitale Technologien ausgesetzt. Immer leistungsfähigere Computer, immer spezifischer werdende Anwendungsprogramme sowie eine immer dichter werdende globale Vernetzung erlauben u.a. neue Wege der Datensuche und -speicherung, neue Kommunikations- und Produktionsmöglichkeiten, neue Kauf- und Konsumgewohnheiten sowie die Fähigkeit, von zuhause aus medizinische Hilfe zu erhalten. Krankheitsdiagnosen können verfeinert und beschleunigt werden, therapeutische Interventionen personalisiert. Langweilige oder mühselige administrative oder andere Routinearbeiten können an Maschinen delegiert, Kundenwünsche individueller, flexibler und schneller bedient werden. Dass Menschen mit Hilfe digitaler Technologien besser und schneller lernen und entscheiden können, zeigt nicht zuletzt das aktuellste Beispiel: Die Verbindung der neuesten gentechnologischen Verfahren mit digitaler Technologie ermöglichte, wirksame Impfstoffe gegen COVID-Sars 19 in weniger als einem Jahr verfügbar zu machen – die Entwicklungszeit ohne diese Technologien liegt bei etwa 10 Jahren. Es gibt also weitestgehend unbestrittene Nutzenpotentiale digitaler Technologien.

Wie bei allen technischen (und sozialen!) Innovationen gibt es jedoch auch eine Kehrseite: Je effizienter und effektiver eine Technologie ist, desto größer ist auch ihr Missbrauchspotential. Die Weitergabe von Daten und deren Auswertung zur Verfeinerung von Produktemarketing ist dabei noch das geringste Übel. Gesichtserkennungstechnologien können zur politischen Verfolgung genutzt werden, Krankheitsdaten zum Ausschluss von Versicherungsschutz, Persönlichkeitsprofile zur Beeinflussung von Wahlen, fake news zur Polarisierung von Gesellschaften. Die negativen psychischen und gesellschaftlichen Folgen der durch Digitalisierung veränderten Arbeits- und Unterhaltungswelt sind ebenso wenig absehbar wie die der entstandenen Marktmacht weniger Konzerne. Möglich sind auch unerwünschte Folgen, die heute noch jenseits unseres Erkenntnisstandes liegen.

Dass Innovationen Nutzen und Risiken mit sich bringen, ist bekannt. Seit Gerhardt Hauptmanns “Die Weber” wissen wir auch, dass neue Technologien massive Verteilungswirkungen haben können. Dass jedoch die Besitzer von Amazon oder Google märchenhaft reich wurden, kleine Buchhändler oder Modeläden aber Existenzgefährdung erleiden, liegt nicht an der Bosheit der Bosse, sondern ist eine Folge vieler Konsumentenentscheidungen. Viele Aspekte der digitalen Zivilisation sind, um eine Formulierung von Hans Jonas zu nehmen, “subtil in ihren Mitteln und vulgär in ihren Wirkungen”.

Eine angemessene gesellschaftliche und wirtschaftliche Bewertung der Digitalisierung erfordert kontextualisierte Güterabwägungen. Diese beruhen auf persönlichen Werturteilen, die wiederum das Resultat von individuellen Weltsichten, Wertesozialisationen sowie positiven oder negativen Erfahrungen sind – mit entsprechenden Konsequenzen für Folgenabschätzungen.

Paul Watzlawick unterschied in seiner Arbeit zum Konstruktivismus in eine “Wirklichkeit erster Ordnung” und in eine “zweiter Ordnung”. Auf den von Ulrich Hemel erörterten Sachverhalt bezogen ist die Wirklichkeit erster Ordnung die Technologie als solche, hard ware und soft ware. Die Wirklichkeit zweiter Ordnung ist die Zuschreibung von Sinn und Zweck der jeweiligen Technologie. Je nach zugrundeliegenden Werturteilen und Weltsichten (Hemel nennt dies “mentale Architektur”) können Befürworter und Gegner der Digitalisierung ihr durch Werturteile bestimmtes a priori Urteil so einordnen (framing), dass es wie eine logische Ableitung aus wissenschaftlichen Fakten erscheint.

Ulrich Hemel erörtert die Frage, wie aus ethischer Perspektive mit durch Digitalisierung entstehenden Dilemmata umzugehen sei auf eine tiefgründige und zum Nachdenken anregende Weise. Die ausführlichen Verweise auf weiterführende Literatur geben interessierten Lesern die Möglichkeit, ausgewählte Gedankengänge zu vertiefen.

Der Theologe Helmut Gollwitzer  definierte (in “Krummes Holz – Aufrechter Gang”) Fortschritt als “nichts anderes als dauernder Kampf um das Erringen seiner positiven Aspekte, das Bestehen seiner ihn begleitenden Gefahren und das Verwinden der von ihm verursachten Einbußen”. Was allerdings im Kontext digitaler Technologien die positiven Aspekte, die Gefahren und die Einbußen sind, bleibt – siehe oben – strittig. Um in dieser Situation menschendienliche Auswirkungen möglichst zu fördern und gegenteilige Auswirkungen möglichst zu minimieren, empfiehlt Ulrich Hemel das Einziehen von Leitplanken:

Bei der Entwicklung und im Design digitaler Technologien sollen fünf Prinzipien Beachtung finden: klar zurechenbare Verantwortung, Ausrichtung an den Werten der Nutzergruppen, Erklärbarkeit, Beachtung der Datenrechte von Nutzern und Fairness. Insbesondere Fairness liegt Hemel am Herzen: Die informationelle Selbstbestimmung muss gewahrt, die Goldene Regel der Reziprozität beachtet, Transparenz und Rückverfolgbarkeit sichergestellt werden. Die Nutzung von generierten Daten muss ein geregeltes Verfallsdatum haben, und Interessenskonflikte müssen durch (Schieds-) Gerichte lösbar sein. Auf diese Weise, so Hemel, entstehe Vertrauen in ihre Nutzung digitaler Technologien.

Ob die Digitalisierung letztlich durch überwiegend gute oder schlechte Verwendungszwecke charakterisiert wird, liegt nicht an den Maschinen und auch nicht nur an den Menschen, die sie programmieren. Sie liegt in hohem Maße auch an denjenigen, die sie nutzen: Menschen sind in der Lage, selbstbestimmt und zeitsouverän zu handeln. Sie können mit individueller digitaler Mündigkeit und Selbststeuerung drohende Kontrollverluste minimieren.

Wegen der Vielzahl der handelnden Akteure, der damit einhergehenden Verantwortungsdiffusion sowie der Tatsache, dass noch nicht alle Folgen eindeutig abschätzbar sind, wirft die Digitalisierung eine Reihe neuer Fragen auf. Weil wir nicht alles wissen können, sind auch längst nicht alle Wert- und Interessenkonflikte auflösbar. Aber auch im Zusammenhang der Digitalisierung «..leben wir Menschen nicht einfach passiv getrieben in unserer eigenen Geschichte. Wir übernehmen Verantwortung für unser Schicksal, wir beurteilen es danach, was sein soll, wir denken moralisch. Die fundamentale Ambivalenz ist darum die Ambivalenz der Moral» (Carl Friederich von Weizsäcker). Diese zu reflektieren erleichtert die Lektüre vom Ulrich Hemels großartigem Buch – das macht es besonders wertvoll.

 

 

Der Rezensent

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Leisinger

Klaus M. Leisinger ist Professor (em.) für Soziologie an der Universität Basel sowie Gründer und Präsident der Stiftung Globale Werte Allianz (www.globalewerteallianz.ch ). Nach mehrjähriger Managementverantwortung für ein Pharmaunternehmen in Ostafrika war er bis zum Jahre 2013 Präsident und CEO der Novartis Stiftung für Nachhaltige Entwicklung. Er forscht, lehrt und berät Unternehmen zu Corporate Responsibility Sachverhalten im Kontext der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung. U.a. diente er UNO Generalsekretär Kofi Annan als Special Advisor on the Global Compact und ist Mitglied des “Leadership Councils des UN Sustainable Development Solutions Network”.

 

Ähnliche Beiträge

Mit der “Transformative Teaching Toolbox” hat ein Projektteam der Bergischen Universität Wuppertal...

Bildungsforschende der Freien Universität Berlin veröffentlichen neue Studie zu Nachhaltigkeit in...

Gesellschaftlicher Wandel erfordert ein umfassendes Umdenken. Seit fünf Jahren beschäftigen sich...

Hinterlassen Sie eine Antwort