Wo beginnt die Geschichte der Kennzahlen und der Key Performance Indicators? Vielleicht bei Benedikt von Nursia und der Klosterregel: Ora et labora – Bete und Arbeite. Warum? Weil es bei Kennzahlen nicht auf die Zahl ankommt – sondern auf Fokussierung und Disziplinierung des Lebens und Arbeitens. Und doch kommt etwas spezifisch Neuzeitliches hinzu, wenn Fokussierung und Disziplinierung mit Zahlen verknüpft werden. Kaum jemand hat die Herausbildung des Lebens mit Key Performance Indicators besser beschrieben als Max Weber in seiner Schrift von der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus. Strukturierte Rechenhaftigkeit, buchhalterische Rationalisierung der Lebensführung, innerweltliche Askese und Konsumverzicht und die Idee des spezifischen Berufs jedes Christenmenschen: die Kombination dieser Elemente habe zur Ausbildung des westlichen Betriebskapitalismus geführt. Wer Lebenszeit verschwendet, der widersetzt sich dem Willen Gottes.

Längst sind die religiösen und sinnhaften Hintergründe dieses Lebensstils verblasst. Der Indikator ist Selbstzweck geworden. “Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein.” So schrieb Max Weber 1905.

 

Worum es geht: Abstraktion und Normkommunikation

Ganz so skeptisch muss man es nicht sehen. Aber richtig ist: Wir messen alles, was uns in die Finger beziehungsweise vor die Sensoren kommt. Und nicht immer sind die entscheidenden Fragen geklärt: Um welche und wessen Performance (vor wem) soll es gehen? Was ist der Indikator und wenn ja, wie viele. Und was ist Key? Also relevant und was eben nicht?

Eigentlich sind es nur zwei Aspekte, die eine Kennzahl ausmachen: Abstraktion und Normkommunikation. Ein Sachverhalt, der mit Worten umständlich zu erläutern wäre, wird zu einer Zahl verdichtet. Und weil Zahlen (zumindest für den Laien) nach Mathematik klingen und damit nach strenger Logik, wird als objektiv und präzise wahrgenommen, was allerdings nicht weniger interpretationsbedürftig ist als jedes Bild und jede Beschreibung.

Gleichzeitig werden mit Kennzahlen Normen kommuniziert, Grenzwerte, Vergleichsmaßstäbe, Benchmarks. Ob man mit guten KPIs positiv auffallen, durch “grün gestellte” KPIs gerade unauffällig bleiben oder ob man andere mit Hilfe von KPIs steuern will, ist eine Frage der Situation und der Perspektive. Dabei spielt Macht eine Rolle: Wer den Standard setzen kann, muss keine Anweisungen mehr geben, um Macht auszuüben. Die Kennzahl wirkt dann selbst.

Die CO2-Ziele des Pariser Klima-Abkommens – entwickelt aus komplexen mit Wahrscheinlichkeiten versehenen Zukunftsszenarien – sind ein gutes Beispiel. Eine alte Debatte bekommt mit den quantifizierten Zielen eine Verbindlichkeit, die im Appell “Jeder muss was tun” nie zum Ausdruck gekommen wäre. Doch aus Verbindlichkeit wird schnell Verbissenheit. Die Interpretation des Indikators, dass oberhalb des 1,5- oder 2-Grad-Zieles unmittelbar und unausweichlich der Untergang der Welt folgern und junge Menschen keine Zukunft mehr hätten, lässt sich aus keinem Bericht der Klimaforscher herauslesen. Die Rückübersetzung von Wahrscheinlichkeitsszenarien in bildhafte Sprache des Protestes ist eben eine Interpretation – auch wenn im Hintergrund eine wissenschaftsbasierte Kennzahl steht.

Der Vorteil der Abstraktion in Kennzahlen: die (scheinbare) Klarheit, die Skalierbarkeit und Vergleichbarkeit. Der Nachteil: die notwendige Übersetzung und Interpretation samt aller Missverständnisse oder auch: die Verwechslung des Indikators mit dem Ziel, um das es eigentlich geht.

Der Vorteil der Normierung mit Kennzahlen: “You can’t manage, what you can’t measure”. Doch der Umkehrschluss ist falsch: Nicht alles, was man messen kann, lässt sich mit Messwerten auch schon managen. Und nicht selten verstecken sich Menschen hinter der vermeintlichen Sicherheit geeigneter KPIs.

 

Von Wachstum und Nachhaltigkeitsindikatoren

Eine geradezu übermächtige Kennzahl in Ökonomik und Politik war (und ist noch) das Bruttoinlandsprodukt und die dazugehörige Norm, dass dieses eher wachsen als schrumpfen solle. Wenn durch Unfälle auf den Straßen mehr Autos repariert und verkauft werden, wenn die Krankenhäuser voll und die Anwälte gut beschäftigt sind, dann wächst das BIP, und man hat Zweifel, ob dies wirklich als der zentrale Wohlstandsindikator überhaupt geeignet ist. Die einen wollen die Berechnung des BIP erweitern, um den Indikator der Sache besser anzunähern. Andere wollen die Fokussierung auf das quantitative Wohlstandsziel überhaupt reduzieren. Und dritte halten den Maßstab für verfehlt und ein weiteres Wohlstandswachstum zumindest in entwickelten westlichen Gesellschaften für nicht vertretbar.

“Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität” hieß daher eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages von 2009 bis 2013. Deren Ergebnisse sind allerdings nie, wie gefordert, in einem Wohlstands-Dashboard umgesetzt worden. An diese Stelle rückten 2015 die UN-Sustainable Development Goals der Staatengemeinschaft, welche inzwischen Grundlage der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und ihrer Indikatoren sind. Das Wachstum des BIP wird damit eingebettet in ein System von 17 Zielen mit 169 Targets. An einem Beispiel lässt sich die Problematik deutlich machen: Wie misst man den Fortschritt des konsensfähigen Zieles der Gesundheitsförderung? Als Indikator fungiert (neben Raucherquote und Adipositasquote) die “vorzeitige Sterblichkeit” – also die Todesfälle in einem Alter unter 70 Jahren. Als wenn gesundes Leben und längeres Leben identisch wären. Aber zugegeben: Sinnvollere Indikatoren wären schwerer erhebbar.

Diesen Zielkonflikt zwischen “einfach und messbar” und “genau und aussagekräftig” gibt es natürlich auch im Unternehmenskontext. Die deutsche Betriebswirtschaftslehre im vergangenen Jahrhundert hat noch das Verhältnis von Formalzielen (z.B. Gewinn, Cash-Flow) und Sachzielen (z.B. Produktionszielen, Absatzzielen etc.) diskutiert, bevor irgendwann der Unternehmenswert gemessen als Shareholder Value die Debatte beherrschte.

Der Autor dieser Zeilen kann sich noch gut erinnern, wie er bei einem mittelständischen Anlagenbauer auf diversen Monitoren sinngemäß fand: “Unser Versprechen: Lieferung weltweit binnen 4 Tagen nach Auftragseingang. Erfüllungsquote letzte Woche: 97%.” In einem anderen Unternehmen waren in manchen Aufzügen ebenfalls Monitore angebracht, damit die Beschäftigten zu jeder Zeit die Aktienkurse verfolgen konnten – die steigenden selbstverständlich. Ganz gemäß der Maxime des CEOs: “The priority is to keep the stock price up.” Den Anlagenbauer gibt es noch, das andere Unternehmen – Enron – ist Geschichte.

Erst 2019 haben nun 200 US-Konzernchefs mit dem Business Roundtable zumindest verbal den Abgesang auf Shareholder Value als alleiniges Orientierungsprinzip eingeläutet. Statt sich aber auf wenige Kernaufgaben von Unternehmen in Marktwirtschaften zu konzentrieren, erfolgt ein allzu breit gestreutes Bekenntnis zur Verantwortung für Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten und die gesamte Gesellschaft. Für eine solche Entwicklung hätte die so genannte “Gemeinwohl-Ökonomie” bereits das Instrumentarium parat. Ausgehend vom hilfreichen Selbsttest anhand einer Gemeinwohl-Matrix über die ausgefeiltere Form der Gemeinwohl-Bilanz entwickelt diese Bewegung eine Wirtschaftskonzeption, in der all das Berücksichtigung finden soll, was in den monetären Engführungen klassischer Führungskonzepte ausgeblendet ist. Aber am Ende geht es wieder um Macht: Wer definiert Gemeinwohl und die damit verbundenen Indikatoren und Anreizstrukturen? Akzeptieren wir die Definitionsmacht der Wirtschaftsräte, welche in dieser ordnungspolitischen Perspektive schlussendlich die Standardsetzer sind?

Die Realität stört

Wenige KPIs funktionieren hervorragend, bis sich die ausgeblendeten Teile der Realität zu Wort melden. Komplexe Kennzahlensysteme sind häufig – wie auch das System der Nachhaltigkeitsziele – unübersichtlich und mit Zielkonflikten verbunden. Das kann am System liegen – oder daran, dass die Welt nicht so systematisch funktioniert, wie sich dies Pythagoras gewünscht hätte.

Wohin dies in Zeiten von maschinellem Lernen, großen Datenkorpora und so genannter künstlicher Intelligenz führen wird? Wenn spezifische KPIs zur Grundlage für “predictive” und damit Zukunft vorhersehende Datenanalysen gemacht werden? Die Skeptiker sehen – nicht weniger als zu Zeiten Max Webers – schon wieder eine Selbst-Eliminierung menschlicher Souveränität und Entscheidungsfähigkeiten. Aber ob das wirklich an den neuen Technologien liegt? Oder eher an der alt bekannten Unlust, zu eigenen Entscheidungen zu stehen und der Versuchung, sich an die vermeintlich sichere Welt der zahlenbasierten Entscheidungen anzulehnen?

Die abstrakte Orientierung durch Kennzahlen ist eher dort verzichtbar, wo es Raum und Zeit gibt, in denen sich die Verbindlichkeit gemeinsamer Kulturen entfalten und verdichten kann. So wie einst in den Klöstern beim “Bete und Arbeite”. Wo aber gemeinsame Sprache, Stil und Tradition fehlen, ist die Sehnsucht nach Orientierung besonders groß. In einer globalisierten Welt ist die Sprache der Kennzahlen – missverständlich wie sie ist – ein extrem hilfreiches Tool. Sie überspringt und vermeidet das meditative und mühsame Sich-Verständigen – zumindest scheinbar.

Daher arbeiten ganze Industrien an Orientierungsmarken: messbare Maßstäbe für Anstand und ordentliches Verhalten, für gute und schlechte Politik, für nachhaltige Unternehmensführung und gute Unternehmenskultur, für Glück und Verantwortung – oder auch einfach nur für messbare Anteile des Radverkehrs in Innenstädten.

Damit entsteht aber entweder ein Steuerungsanspruch, der wegen massiver Fremdbestimmung das verfehlt, was er zu schaffen verspricht. Oder – so ist zu hoffen – die Sehnsucht nach klarer Orientierung wird unerfüllt bleiben. Es wird sie nicht geben, die Zahlenreihe, in der sich die Eudämonia, das gute Leben, erfassen lassen wird. Es wird sie nicht geben, die Zahl, in der sich das Maß für “Nachhaltigkeit” ausdrückt. Denn die Welt und das Erleben der Menschen ist immer ein Stück pluralistischer und komplexer.

 

Was tun? Kennzahlen als Leiter

Was aber tun? Vielleicht ist es mit uns und den Kennzahlen wie mit einer Beziehung in der Krise. “Ich kann nicht mit Dir und nicht ohne Dich.” Man will nicht mehr – und doch spürt man den drohenden Verlust. Ein romantisches Gefühl mag helfen, die Krise zu überwinden (oder kurzzeitig zu vernebeln, wer weiß das schon?). Raus aus der kalten Welt der Zahlen und hinein in das neue Glück? Der Verlust kann groß sein.

Vielleicht hilft uns Wittgenstein. Dessen Tractatus logico philosophicus endet mit den Worten: “Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.” Das könnte als Bedienungsanleitung für alle KPIs gelten. “Wer sie genutzt hat, möge sie beiseite stellen.”

Nutzen wir Kenn-Zahlen für einen bestimmten Chance-Prozess? Als bewusste Fokussierung in einer spezifischen Situation? Oder klammere ich mich an sie und lasse sie über mich herrschen? Wen akzeptiere ich als Standard-Setzer und wie weit? Das ist keine Frage an die Kennzahlen, sondern an mich selber, an meine Selbst-Achtung und Selbst-Bestimmung. Doch Selbst-Achtung und Selbst-Bestimmung sind derzeit wenig populär, auch nicht in Wirtschaft und Beratung. Vielleicht weil es dafür noch keine Kennzahl und keine Prüfverfahren gibt.

 

HINWEIS:
Der Text erschien zuerst unter:
https://next.pwc.de/iv19-zahlen-bitte/nicht-mit-dir-und-nicht-ohne-dich.html

 

Der Autor

Prof. Dr. Joachim Fetzer

Prof. Dr. Joachim Fetzer lehrt Wirtschaftsethik (www.wirtschaftsethik.com) und ist Mitglied im Lenkungsausschuss von Sustainable Development Solutions Network – SDSN Germany (www.sdsngermany.de).

fetzer@dnwe.de

 

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