Die Debatte um die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen – kurz CSR – ist nicht neu, befindet sich jedoch seit geraumer Zeit im Wandel. Der Ukraine-Krieg hat eine Frage in den Fokus gerückt, die auch außerhalb dieses Konfliktes relevant ist: Wie verhalten sich Unternehmen in Kriegszeiten? Und aus wirtschaftsethischer Sicht vor allem die Frage: Wie sollen oder sollten sich Unternehmen in politischen Fragen verhalten? Kurz: Wie beschreiben wir die Corporate Political Responsibility? Zu diesem Thema haben wir 5 Fragen an … Norbert Neß, Head of Strategic Communications & Governmental Affairs bei Evonik.

 

(1) Wo beginnt für Sie “politisches Engagement von Unternehmen” und an welche Beispiele denken Sie?

Norbert Neß: Politisches Engagement beginnt vor Ort an unseren Standorten. Denn dort leben und arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Evonik. Hier sollte es einen beständigen Dialog mit den politischen Vertreterinnen und Vertretern geben, aber auch mit Verwaltungen, Bürgerinitiativen und anderen Stakeholder-Gruppen. Wir müssen die Argumente und Fakten darlegen, die für uns als Unternehmen der chemischen Industrie wichtig sind. Auf der anderen Seite müssen wir als Wirtschaftsvertreter zuhören. Nur auf dieser Basis entsteht Vertrauen.

Die Standorte von Evonik sind überall in Europa. Dementsprechend war es für uns selbstverständlich, dass wir uns als ein europäisches Unternehmen in diesem Jahr besonders engagiert für Wahl des EU-Parlaments eingesetzt haben – nach innen und nach außen. In unserem Intranet erzählen sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gegenseitig ihre europäischen Geschichten. Mit einer pointierten Anzeigen-Kampagne in Social Media und auf Plakaten an unseren großen Produktionsstandorten rufen wir zur Europawahl auf und warnen vor einem Rechtsruck. Und wir laden EU-Parlamentarier und Kandidaten zu uns ein, um mit ihnen über Europa zu diskutieren. Eine wichtige Zielgruppe sind rund 500 Auszubildende aus ganz Deutschland. Viele von ihnen sind Erst- oder Jungwähler. Mit ihnen haben wir über die Errungenschaften der EU, aber auch über Grundprinzipien unseres Wahlrechts gesprochen.

Ein politisches Engagement von Unternehmen kennt also keine regionalen Grenzen oder Hierarchien. Wichtig dabei ist: Die Botschaften eines Unternehmens müssen klar formuliert und für alle Gruppen verständlich sein. Nur so sind sie authentisch und finden Gehör.

 

(2) Wie ist es aus Ihrer Sicht um die Legitimität des politischen Engagements von Unternehmen bestellt? Was ist angemessen und was nicht?

Norbert Neß: Politisches Engagement ist nicht nur legitim, sondern wünschenswert. Schließlich haben Unternehmen als Arbeitgeber in der Region eine enorme Bedeutung – sie sorgen für Wohlstand und für sozialen Zusammenhalt. Die Förderung der demokratischen Kräfte und von zivilgesellschaftlichen Partnern stärkt damit den Geschäftserfolg und sichert Beschäftigung. Nur ein Unternehmen mit einer guten Reputation wird aufgrund der demografischen Entwicklung künftig als guter Arbeitgeber attraktiv sein – übrigens auch für Spezialisten aus dem Ausland. Denn wer möchte schon in einem Land arbeiten, in dem er nicht erwünscht ist? Somit engagiert sich Evonik auch durch politische Lobby-Arbeit im ureigenen Interesse.

Grundsätzlich bildet der Gesetzgeber den Rahmen ab, wie Politik und Wirtschaft miteinander zu agieren haben. Daran haben sich Unternehmen zu halten. Wenn wir mit Politikerinnen und Politikern bei Parlamentarischen Abenden oder bei Standortbesuchen reden, dann offen und transparent. Wir weisen darauf hin, was wir für unsere hervorragenden Produkte für eine nachhaltige Transformation unserer Wirtschaft benötigen und wo uns der Schuh drückt.

In Deutschland haben wir seit über 70 Jahren ein Erfolgsmodell, um das uns viele Länder beneiden: die Soziale Marktwirtschaft balanciert das Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Gemeinwohl sehr gut aus. Wir sollten sie uns bewahren.

 

(3) Welche Grenzen hat politisches Engagement von Unternehmen und wann kann es auch gefährlich und schädlich sein?

Norbert Neß: Wie gesagt, die Grenzen setzen der Gesetzgeber und die Unternehmen mit ihren strengen Compliance-Regeln bzw. einem Code of Conduct. Werden sie verletzt, dann ist es nicht mehr politisches Engagement, sondern ein offensichtlicher Regelverstoß und hat im Zweifel eine juristische Konsequenz. Unternehmen mit Werten und Haltung werden diese Grenze nicht überschreiten. Die anderen müssen mit den Konsequenzen leben.

 

(4) Welche internen Strukturen (Corporate Governance) und welche Expertise benötigen Unternehmen, um gute politische Entscheidungen zu treffen?

Norbert Neß: Ein börsennotiertes und multilaterales Unternehmen wie Evonik unterliegt vielfältigen Regeln und Regularien. Wir haben einen Purpose bzw. Unternehmenswerte, die uns unternehmerisch leiten: Leading Beyond Chemistry – to improve life, today and tomorrow. Selbstverständlich haben wir eine Corporate Governance, die uns einen rechtlichen Rahmen vorgibt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden regelmäßig in Compliance-Fragen geschult. Darüber hinaus haben wir professionelle und vernetzte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der politischen Kommunikation – bei Evonik Governmental Affairs, die ihren Job kennen und gut machen.

Die wichtigste Expertise, um politische Entscheidungen mit einer Wirkung in die Gesellschaft hinein zu treffen, ist zunächst einmal unabhängig von internen Strukturen oder Regeln. Unternehmen benötigen eine klare Haltung. Einen Werte-Kompass, der die Menschen im Unternehmen leitet und Orientierung gibt. Bei Evonik sind dies ein Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Vielfalt. Diese Haltung sollte von allen im Unternehmen eingenommen werden: Sie muss Top-Management und Mitarbeitende miteinander vereinen. Nur aus einer solchen Geschlossenheit entsteht überzeugendes Handeln.

Wir haben uns im vergangenen Jahr eine Corporate Political Responsibility-Strategie und ein CPR-Leitbild gegeben. Die Überschrift lautet selbstbewusst: “Unternehmerisch handeln, politisch wirken – mit Kompetenz, Überzeugung und Mut. Für Freiheit, Wohlstand und Zusammenhalt.” In diesem Leitbild sind unsere Rolle, unser Selbstverständnis und unsere Ziele politischen Handels klar formuliert. Wir drücken mit diesem Leitbild unsere Haltung aus und machen Politik und Gesellschaft damit ein klar formuliertes, umfassendes Angebot zur Zusammenarbeit. Denn wir sind ein politischer Akteur und suchen den Dialog.

 

(5) Worin sehen Sie Chancen und für welche Themen wünschen Sie sich mehr politisches Engagement von Unternehmen?

Norbert Neß: Wir erleben heute eine zunehmende Politisierung der Gesellschaft, die sich immer weiter zuspitzt. Die Härte der Auseinandersetzung in den sozialen Medien hat leider mittlerweile auch die Straßen erreicht. Diejenigen zu schützen, die verbal und körperlich attackiert werden, muss die Aufgabe von uns allen sein. Auch von Wirtschaftsvertretern.

Aus den letzten Monaten kann man aber auch viele positive Lehren ziehen. Die “Mitte” ist aufgewacht, schaltet sich in Debatten ein, demonstriert in den Städten und positioniert sich in den sozialen Netzwerken. Dazu zählen auch führende Vertreterinnen und Vertreter aus der Wirtschaft und Unternehmerinnen und Unternehmer. Hier sehe ich eine große Chance, wenn dieser Wandel in der Einstellung eine nachhaltigere Wirkung hat. Der Evonik CEO Christian Kullmann stand mit seinem Statement “Wirtschaft muss politischer werden” lange allein. Andere sind ihm gefolgt. Das ist gut so.

Grundsätzlich sind Unternehmen heute in vielfältiger Weise gefordert. Sie sind Treiber von Transformation. Gleichzeitig befindet sich unsere Welt politisch, technologisch und gesellschaftlich in einem Wandel mit einer nie gekannten Dynamik. Ich möchte, dass Unternehmen dabei voran gehen, Pionier und Vorbild innerhalb einer solchen Entwicklung sind. Daher wünsche ich mir von Unternehmen vor allen Dingen Mut. Mut, die Bedürfnisse, die die Wirtschaft hat anzusprechen und bei politischen Entscheidern klar zu formulieren. Offen und transparent und nicht in Hinterzimmern. Nur so gelingt es allen Beteiligten – und dazu zähle ich auch die Gewerkschaften – Deutschland und Europa als Industrie- und Wirtschaftsstandort global wettbewerbsfähig zu halten.

Ich wünsche mir als jemand, der politisch gearbeitet hat und noch heute in der Kommunalpolitik aktiv ist, dass Unternehmen diejenigen unterstützen, die politisch aktiv sind. Denn Demokratie braucht Demokraten und Politik braucht Politiker. Die Politik benötigt auf allen Ebenen Vertreterinnen und Vertreter mit wirtschaftlichem Sachverstand und den findet man in Unternehmen. Ich wünsche mir, dass es vor allen gelingt, junge Menschen für ein Mandat zu begeistern. Davon profitiert die gesamte Gesellschaft.

 

Corporate Political Responsibility – 5 Fragen an… ist eine Interviewreihe des DNWE. Sie zeichnet sich besonders durch die Pluralität unserer Expert_innen aus. Die gesamte Reihe veröffentlichen wir fortlaufend im Dossier.

 

Über Norbert Neß

Norbert Neß, 52, ist seit 2014 bei Evonik tätig und als Head of Strategic Communications & Governmental Affairs verantwortlich für die politischen Beziehungen und Kontakte des weltweit tätigen Spezialchemiekonzerns mit 34.000 Beschäftigten. Der gebürtige Kölner leitet auch das Berliner Büro des Unternehmens. Neß hat seine Berufslaufbahn als Mitarbeiter im Deutschen Bundestag in Bonn begonnen. Sein Weg führte ihn als Büroleiter, Pressesprecher und Referatsleiter bis in die Landesregierung nach Düsseldorf. Er war unter anderem viele Jahre enger Mitarbeiter und Pressesprecher des späteren Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers sowie Pressesprecher des CDU-Fraktionsvorsitzenden Karl-Josef Laumann. In seiner Freizeit engagiert sich Neß in der Kommunalpolitik in seinem Wohnort Hamminkeln (NRW).

 

 

 

 

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