Schülerwettbewerb 2023
PhilosophieArena
Michelle Marie Gruber
Berlin, 06.10.2023

 

Warum?

Warum erleuchtet bis drei Uhr nachts das Neonlicht deiner Schreibtischlampe deine Lernunterlagen vor dir?

Warum lernst du, bis das warme Rot sich ins tiefe Schwarz verwandelt, nur um vor dem nächsten Erröten deine Lider zu öffnen und dich auf den Weg zur Klausur um acht Uhr morgens zu machen?

Warum sind dir die roten Zahlen unter deiner Handschrift wichtig?

Warum lässt du nicht alles stehen und liegen und genießt das schallende Lachen deiner Freunde, das im Bass der Musik untergeht?

Warum gibst du so viel auf?

  • Weil es sich lohnen wird!
  • Für später!
  • Für eine gute Zukunft!

Und damit ist nur der Beruf gemeint!

Du schuftest jetzt, um den NC für ein Studium zu erreichen, von dem du nicht einmal weißt, welches es ist…

Trotzdem lernst du dafür!

Und da stehst du dann…

Am Ende deiner Schullaufbahn und irgendwie wieder am Anfang.

Du fragst dich, was du nun tun sollst.

Siehst deine eine beste Freundin mit Stethoskop und weißem Kittel auf dem Weg zur medizinischen Fakultät, die andere mit weitreichendem Lebensplan die Straßen von Paris entlang spazieren.

Und du?

Du stehst da, in der einen Hand die Blume, die man dir bei der Abiturzeugnisausgabe überreichte, in der anderen das Zeugnis selbst.

Du stehst da, die Blume verwelkt Stück für Stück.

Endlich setzt auch du dich in Bewegung.

Du suchst dir einen Studienplatz, den vermeintlich “richtigen” für dich.

Freust dich auf die aus den Wohnheimzimmern drängende Musik, deren Bass nun auch deine Ohren erfreuen darf… oder eher erfreuen sollte.

Denn wieder einmal sitzt du da, deine Haare zerzaust, weil du zu oft mit deinen Fingern hindurch gefahren bist.

Aus Verzweiflung.

Du fragst dich, warum du lernst, während andere tanzen.

Deine Augen geweitet von dem vierten Kaffee, der Überdosis Koffein.

Der Überdosis Lernen.

Warum?

  • Weil es sich lohnen wird!
  • Für später!
  • Für eine gute Zukunft!

Die Worte kommen dir bekannt vor.

Vor einem Jahr dachtest du, die Zukunft wäre jetzt. Jetzt siehst du die Zukunft in 5 Jahren, 10 Semestern, 1825 Tagen.

Doch langsam fragst du dich, ob es diese mysteriöse Zukunft überhaupt gibt. Hat sie jemals einer gesehen, einer erlebt?

Denn am 1826. Tag beginnt das Arbeitsleben – die vermeintliche “Zukunft”.

Aber warum erzählen dir dann ab Sekunde eins alle, dass du jetzt hart arbeiten musst, um eine gute, gesicherte Rente zu haben?

Ist die Rente die gute Zukunft, von der sich alle erzählen?

Und dann?

In dieser Zukunft: Was ist dann?

Denkst du wirklich, dass du dann glücklich bist, weil du dein Leben lang darauf hingearbeitet hast?

Schon in der Schule sagte man dir: “Du lernst für das Leben.”. Doch langsam wirst du das Gefühl nicht los, dass du nicht für das Leben lernst, sondern für das Lernen lebst.

Nur noch für das Lernen.

Ist es das wirklich wert?

Der ganze Aufwand, die ganzen Tränen, all die verpassten Dinge?

Warum muss es denn immer nur um das gehen, was kommt?

“Arbeite jetzt, damit du einen “ordentlichen” Beruf erlernen und deine Familie ernähren kannst!”

Geld! Geld! Geld!

Dir wird klar, dass die Vorstellung der Zukunft an die Vorstellung des Vermögens, des Geldes geknüpft ist.

Wenn jemand von einer Karriereleiter spricht, so sind die Stufen von Geldscheinen geziert, die sich Schritt für Schritt multiplizieren.

Die, die viel Geld haben, nennen sie privilegiert.

Doch kannst du den Arzt, der Nachtschicht auf Nachtschicht schichtet, am Frühstückstisch mit seiner Frau und den zwei Kindern kaum die Augen offenhalten kann und am Tage die Sorgen der Nacht mit sich herumträgt, privilegiert nennen?

Privilegiert, weil er sich eine Villa mit einem riesigen Garten und den Luxusurlaub auf den Malediven leisten kann?

Oder ist nicht derjenige privilegiert, der keinen Urlaub braucht, weil er keine Pause von dem benötigt, was er liebt?

Du erkennst, dass dich nicht deine Berufsbezeichnung und das damit verbundene Geld, sondern die Art, wie du den Beruf ausübst, definiert.

Du kannst dich als Lehrer Tag ein Tag aus zur Schule quälen, deine Pflichtstunden absolvieren und die Rente herbeisehnen.

Was ist aber, wenn du ein paar Stunden weniger arbeitest, den Stress minimierst, auf etwas Geld verzichtest und in jedem Tag die Möglichkeit siehst, die nächste Generation zu inspirieren?

Es wäre naiv von dir zu glauben, dass jeder die Chance dazu hat, seine Karriereleiter, anstatt mit Geld, mit dem Grad an Glücklichsein zu schmücken.

Doch wenn du das nächste Mal mit zerzausten Haaren und geweiteten Pupillen unter dem Neonlicht deiner Schreibtischlampe sitzt, so gib dich nicht mit der Antwort „Für eine gute Zukunft!“ zufrieden.

Frag dich, was für dich eine gute Zukunft ausmacht und fang an, sie in eine fantastische Gegenwart zu verwandeln!

Denn eines ist klar: Berufe und die Menschen, die sie mit Leben füllen, sind das Fundament einer funktionsfähigen Gesellschaft.

Aber es liegt an dir, mir, uns allen, die größte Phase unseres Lebens mit dem zu verbringen, was wir lieben.

Und wenn der erste Pfeil nicht ins Schwarze trifft, so ziehe den zweiten, dritten oder auch vierten aus deinem Köcher und spann den Bogen.

Irgendwann landest du einen Treffer und wirst dankbar sein, dich privilegiert nennen zu dürfen.

Denn früher oder später wird dir klar:  Der Mensch braucht den Beruf, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun – Für sich selbst, für andere.

Die Menschheit braucht Berufe.

Wo willst du einen Termin bei Zahnschmerzen machen, wenn es keine Zahnärzte mehr gibt?

Wem willst du an der Kasse dein Geld überreichen, wenn keiner mehr den Stuhl dahinter besetzt?

So manch’ einer würde dir sagen:

“Na, wenn kein Mensch mehr an meinen Zähnen werkeln will, so wird es die Maschine tun, der Roboter, die KI. Und beim Einkaufen leg´ ich einfach meine Karte zum Bezahlen auf – Kassierer? – Überflüssig.”

Doch ist das wirklich die Lösung?

Zusehen, während andere, anderes die Arbeit macht?

Es klingt zunächst verlockend…

So verlockend wie das strahlende Gelb der Zitrone am himmelan steigenden Baum.

Du greifst zu, die Überraschung bittersüß.

Von süßer Verheißung zu saurer Wahrheit bemerkst du, dass wir nicht nichts tun können.

Denn wann bist du glücklicher? An dem Abend, an dem du erschöpft, aber mit der Gewissheit, heute etwas Kleines für das große Ganze getan zu haben, ins Bett fällst? Oder ist es die Abendstund’, in der du am hundertsten Tag Nichtstun, Herumliegen und Dir-alles-bringen-lassen, im Bett liegst?

Erschöpft vom Nichtstun.

Ein Leben ohne Arbeit, nur Urlaub.

Doch was ist der Urlaub noch wert ohne die Arbeit?

Wir gieren nach ihm, weil er die Belohnung unserer Arbeit ist. Deshalb können wir ihn genießen.

Siehst du´s?

Nähmen wir uns die Arbeit, so nähmen wir uns den Urlaub.

Es ist die Kunst, die wir zu erlernen brauchen, den Beruf zur Berufung zu machen.

So schau genau hin: Nicht umsonst steckt in dem Wort “berufen” der Beruf.

Er ist der Sinn unserer Existenz, das Medium, um das auszuüben, wozu wir berufen sind. Er schenkt uns die Möglichkeit, unsere Gaben zu nutzen, unsere Fähigkeiten auszuleben.

Er ist keine Last, er ist ein Geschenk.

Gewiss sieht das nicht jeder. Doch gewiss ist auch nicht jeder im für ihn richtigen Beruf.

Wir können nicht alle das Gleiche lieben und können. Deine Worte sind des Andern Zahlen, deine Hände des Andern Beine. Des Malers Blick ist des Lehrers Empathie.

Es ist die Kunst, das zu finden, was du liebst, was du kannst.

Ich denke, das ist das, was uns die Schule lehren und das Leben geben sollte.

Nicht die Roboter sind die Zukunft der Arbeit und Gesellschaft.

  • Es ist und war schon immer die Liebe. Die Liebe zu Anderen, die Liebe zu dem, was du tust.

 

 

Ähnliche Beiträge

Damit sich New Work nicht als Old Work mit Tischtennis entpuppt, müssen wir die Zukunft der Arbeit...

Schülerwettbewerb 2023 PhilosophieArena Lea Trittenbach   Es gibt immer wieder verschiedene...

Schülerwettbewerb 2023 PhilosophieArena Jesko Veenema Jahrgangsstufe 12 (Q2)   Einleitende...

Hinterlassen Sie eine Antwort