Am besten alles digital, das Unternehmensmantra der Stunde. Papierlos, vernetzt, datengestützt, von der Entwicklung bis zur Produktion, vom Recruiting bis zur Leistungsüberprüfung. Wer angesichts der digitalen Möglichkeiten zögert, wird von ihrer Entwicklung überrollt.

Halten wir einen Moment die Luft an.

Klar, die Rolle des ewigen Mahners steht der Wirtschaftsethik nicht gut. Aber durch die Brille der Ethik erkennen wir: Nicht jeder Aspekt der Digitalisierung im Arbeitsalltag hat positive Konsequenzen, zumindest nicht für alle Beteiligten. Digital vernetztes Arbeiten bedeutet nämlich auch die ununterbrochene Produktion digitaler Spuren. Arbeit wird minutiös kontrollierbar, selbst aus der Ferne und mit geringem Aufwand. Wie schnell wird getippt, welche Websites aufgerufen, wer ruft an, wie schnell wird die Maus bewegt. Alles wird gespeichert. Big Brother from 9 to 5 – eine digitale Überwachungsmaschine. Die folgenden Überlegungen geben einen Einblick in die arbeitsethischen Konsequenzen des vernetzten Unternehmens.[1] Take-Home: Durch Vernetzung und Überwachung gehen Freiräume bei der Arbeit zurück. Das ist nicht gut für die Zufriedenheit und die Kreativität.

 

Die Arbeit ist überall

Digitalisierte und vernetzte Arbeit bedeuten Entgrenzung. Befreiung vom Büro, überhaupt von einem festen Arbeitsplatz. Keine Präsenzzeit, räumlich und zeitlich ungebunden. Dies bedeutet zunächst einen Zugewinn an Freiheit für den Arbeitenden. Es löst aus der Einengung von Festnetztelefonen, Aktenschrank und Postfach (dem physischen). In der Konsequenz rückt die Arbeit näher an den Menschen heran. Emails werden auch nach 17.00 Uhr gelesen, denn das Firmenhandy liegt auf dem Nachtkasten. Die Trennung zwischen Privat und Arbeit lässt sich nicht mehr scharf ziehen. Dies beginnt bereits beim Recruiting. Datengestützte Personalarbeit erstellt aus Bewerbungsunterlagen, Personalakten und digitalen Selbstauskünften (z.B. bei facebook) ein Profil. Der Fit des Bewerbers mit der zu besetzenden Stelle oder des Angestellten mit seinen Aufgaben werden mathematisch überprüfbar. Faktoren wie soziale Aktivität, Freizeitverhalten, die Verweildauer an einem Ort oder Arbeitsplatz, Ausbildung, Familienstand, auch das Verhalten und die Äusserungen in sozialen Medien fliessen in diese Bewertung ein – und haben Einfluss auf Einstellung oder Beförderung. Wechselwille oder Karriereplanung des Angestellten werden für das Unternehmen sichtbar, ohne dass der Bewerber dies überhaupt gegenüber dem Unternehmen kommuniziert hat (vgl. Aspan 2020).

Die vernetzte Arbeit lebt von der Datenerhebung. Diese geschieht unbemerkt im Hintergrund, läuft bei tagtäglichen Arbeiten wie dem Verfassen von E-Mails oder dem Besuch von Webseiten im Hintergrund mit. Der Arbeitsablauf wird durch die digitale Kontrolle und Protokollierung nicht gestört. Anders als ein Vorarbeiter, der alle zehn Minuten lautstark zum Fleiss anhält, ist das elektronische Sensorium unsichtbar. Die Kontrolle wird erst real, wenn sie – ausgewertet und mit den Daten der Kollegen und den Ansprüchen der Geschäftsführung verglichen – zum quartalsweisen Gespräch ausgedruckt wird. Und dann ihren Weg in die Personalakte findet.

Die Informationssammlung ist technisch einfach möglich – Beispiel Standortdaten in einem Logistikbetrieb. Hier hat der Chef ein vitales Interesse daran stets zu wissen, wo seine Angestellten gerade sind: Fahren sie die Pakete in der optimalen Reihenfolge aus? Oder wird getrödelt? Dank einer App wird der Standort der Fahrer ununterbrochen an den Unternehmenscomputer gesendet. Wer, wo, wie schnell – all das wird aufgezeichnet und gespeichert. Mit der Unterzeichnung des Arbeitsvertrages erklärt sich der Arbeitnehmer mit der Datensammlung einverstanden. Entsprechend ist die Überwachungspraxis laut Rechtsprechung legal.

Die digitale Arbeit kommt ausgesprochen nah an den Menschen. Unternehmen stellen sich darauf ein. Google bietet auf seinem Betriebsgelände zum Beispiel derart viele Annehmlichkeiten, dass einzelne Mitarbeiter gleich ganz in die Firma ziehen. Von der Dusche über Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten hat das Unternehmen den Anspruch, für den Arbeitnehmer den Stellenwert einer Familie zu erreichen. Ganz in diesem Sinne bieten Apple und facebook ihren Mitarbeiterinnen an, die Kosten für das Einfrieren von Eizellen zu übernehmen. In den besten Jahren kann die Kraft ganz dem Unternehmen gewidmet werden. Die Familienplanung wird auf später verschoben werden, falls es dann noch interessant ist (vgl. Lampert 2019). Die digitale Arbeitskultur wandert in das analoge Leben ein.

 

Ethische Konsequenzen

Die digitale Übergriffigkeit auf das private Leben ist eine ethische und persönliche Herausforderung. Wie weit entfernt scheint der unbeobachtete Ziegenhirte, der auf der Waldlichtung döst. Das gehört heute in die Kategorie Ferien auf dem Bauernhof. Mit der Vernetzung des Arbeitsumfeldes und der Arbeitsgegenstände verschwinden das Geheime und das Private aus der Arbeit. Widerspruch zwecklos, denn aus Sicht des Unternehmens geht es um Effizienzsteigerung. Wer nicht riskieren will, dass seine Arbeit von einem Roboter erledigt wird, hat sich mit der Überwachung abzufinden (vgl. Ravenscraft 2020). Wer kontrolliert wird, arbeitet mehr. Die Erkenntnis ist alles andere als neu: Der Hawthorne-Effekt geht auf eine Studie aus dem Jahr 1924 zur Arbeitsproduktivität zurück. Diese besagt, dass Arbeiter nur aufgrund ihres Beobachtetwerdens eine Leistungssteigerung (nicht: Qualitätssteigerung) zeigen. Das digitale Panoptikum verfeinert dies. Die Überwachten wissen nie genau, wann und ob sie beobachtet werden. Dies führt zur Verhaltensanpassung, aus dem Individuum selbst heraus und auf Grundlage der Unwissenheit (vgl. MacCannell 2011, 29). Die Unternehmen müssen also nicht einmal etwas mit den gesammelten Daten anfangen. Das Bewusstsein der Überwachung reicht aus, um das Verhalten der Angestellten zu normieren (“Panoptikum-Effekt”). Das Auge des Chefs scheint immer auf den Arbeitenden gerichtet.

Die beschriebenen Folgen der Vernetzung sind zugespitzt. Aber die Überwachung, die Entgrenzung und die Übergriffigkeit der Unternehmen auf ihre Mitarbeiter haben es leicht. Ohne Berührung, ohne physische Präsenz und Aufwand schleichen sie sich in die Arbeit ein und wirken auf die Unternehmenskultur zurück. Dem Management sollten diese ethisch bedenklichen Konsequenzen für die Mitarbeiterführung bewusst sein. Beobachtung und geistige Bevormundung schaffen kein arbeitsfreundliches Klima. Produktiv und kreativ, das gibt es nicht im Panoptikum.

 

 

Literaturhinweise

Aspan, Maria (2020): A.I. is transforming the job interview – and everything after. Fortune Magazine Online. https://fortune.com/longform/hr-technology-ai-hiring-recruitment/ (23.02.2020).

Lampert, Natalie (2019): “The Unexpected Freedom That Comes With Freezing Your Eggs”, The New York Times Magazine, 11/2019 6-8.

MacCannell, Dean (2011): The ethics of sightseeing. Berkeley: University of California Press.

Ravenscraft, Eric (2020): Surveillance Tech Is an Open Secret at CES 2020. Onezero. https://onezero.medium.com/some-surveillance-tech-is-an-open-secret-at-ces-2020-6f231f09a0af (23.01.2020).

Zapf, Chr. Lucas and Peter Seele (2017): Die Rückseite der Cloud. Eine Theorie des Privaten ohne Geheimnis. Heidelberg: Springer.

 

[1] Die nachfolgenden Überlegungen gehen zurück und ergänzen das Buch von Lucas Zapf und Peter Seele: Die Rückseite der Cloud. Eine Theorie des Privaten ohne Geheimnis. Heidelberg: Springer, das 2020 in seiner zweiten, überarbeiteten Auflage erscheint (erste Auflage 2017).

 

Der Autor

Lucas Zapf

Lucas Zapf, Jahrgang 1984 und geboren in München, ist Religionsökonom und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Marktwirtschaft auf unser Zusammenleben. Dissertation an der Universität Basel zur Arbeitsethik der Marktwirtschaft. PostDoc an der Universität Lugano am Lehrstuhl für CSR mit Forschungen zur Marktvergötterung und zur Gefährdung des Privaten durch die Digitalisierung. Er lehrt an der Universität Basel und der Fachhochschule Nordwestschweiz und ist als Ethical Risk-Consultant tätig.

lucas.zapf@unibas.ch

 

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